Saul: Herrschaft als Selbstzweck? – Teil 1

Nach dem langen Stillstand beginnt unsere neue Saison mit einem einzigartigen Ereginis: Das monumentale "Saul" Oratorium von Ferdinand Hiller (1811-1885) war für lange Zeit vergessen. Mit der Wiederaufführung feiern wir sowohl das Werk selbst als auch das Jubiläumsjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«. Udo Kasprowicz fasst in seinem Essay für Hartmanns Libretto relevante literarische Interpretationen der Geschichte im Alten Testament zusammen.
Ferdinand Hiller (1865)

Gedanken zu Moritz Hartmanns Sicht auf König Saul

„Der Welt zur Weisung: Das Verderblichste,
was uns zuteil ward, ist der Unverstand.“
SOPHOKLES, ANTIGONE V 1240

„Saul“ und das Dilemma der Sänger

Die Vorbereitungen für das erste Konzert des städtischen Musikvereins nach dem Stillstand des kulturellen Lebens verlaufen so intensiv wie gewohnt, gleichzeitig aber ungewohnt kontemplativ.
Und so macht sich in diesen stillen Übungsstunden unter Kopfhörern vor dem Klavierauszug Irritation und Unbehagen über den Text der einzelnen Chorsätze breit. Welchen Botschaften sollen wir da in leidenschaftlichem Forte unsere Stimme leihen?

Schütte, gieße Deinen Zorn auf die Heiden aus! (…)
Lass ihr Gezelte hoch auflodern,

die Gebeine in Wüsten vermodern!
Gib ihr Gebeine dem Vogel der Luft
und ihre Knochen dem Wolf in der Kluft.“

Hier wird ein Dilemma der Kunst überhaupt deutlich, das Sänger stärker betrifft als Instrumentalisten. Wir sind in der Rolle der Interpreten, weil wir die Werke der Komponisten und Librettisten anweisungsgetreu aufführen.
Dabei müssen wir uns aber, um die von den Urhebern beabsichtigte Wirkung zu erzielen, mit dem Rollenvorbild – in unserem Falle dem Volk Israel – so sehr identifizieren, dass die theatralische Illusion entsteht, in der wir das Publikum „ergreifen“ mit dem, was wir singen.
Das bedeutet aber nicht, sich zu den Aussagen solcher und anderer Passagen zu bekennen, selbst wenn wir sie mit großem Engagement einstudieren. Denn ist nicht Kants Vision eines „ewigen Frieden“ ein zentrales humanes Anliegen, dem wir uns verpflichtet fühlen, obwohl der Zustand der Welt eher Anlass zu resignieren gibt? Wissen wir nicht mit Antigone, dass „lieben und nicht hassen“ unser Handeln bestimmen soll?
Und jetzt soll die künstlerische Qualität der Musik rechtfertigen, dass ein grausames Gottesbild und gleichzeitig menschliche Entfesselung öffentlich gefeiert werden? Sollte man das Oratorium nicht wieder ins Archiv stellen, wo es schon 100 Jahre geruht hat, ohne Schaden anzurichten?
Andererseits haben uns historische Erfahrungen sensibilisiert, wir haben, banal ausgedrückt, aus der Geschichte gelernt. Immerhin genießt wenigstens Mitteleuropa die längste Friedenszeit seit Menschengedenken. Verzicht auf das kulturelle Erbe, sobald es unserer modernen Haltung widerspricht, nimmt den kommenden Generationen die Chance, unseren Weg der Reflexion fortzusetzen und sich der Utopie des Weltfriedens ein Stück zu nähern.

„Saul“ – Die Handlung des Oratoriums

Die Handlung setzt nach dem Sieg Davids über Goliath ein. Saul ist enttäuscht über den Jubel des Volkes und in seiner Eitelkeit verletzt, obwohl der Zweck, um dessentwillen er König geworden ist, erfüllt ist: Israel ist gerettet.
Dieser David ist ein Gegenentwurf zum kriegerischen Saul. Im Urteil selbst Michals, der Königstochter, ist David nur Vollstrecker des Willens Gottes. In dieser Rolle allerdings handelt er unbeirrbar und konsequent. Anfangs noch tritt er als eine Art „Wilhelm Tell“ auf. Vom Lande kommend, wo er und seine Familie im Einklang mit der Natur leben, vollbringt er eine große Tat und strebt wieder zurück in seine Idylle.
Eine Begegnung mit Saul ängstigt ihn, denn der Jubel des Volkes über seinen Sieg hat das Vertrauen Sauls in sein Königsheil schwer erschüttert. In der Rolle des Hirtenknaben besänftigt er Sauls „Geister der Nacht“. Die nächtlichen Albträume, von denen auch die Bibel berichtet, werden hier zu Panikattacken vor dem Verlust des Königtums umgedeutet. Wir erfahren aus dem Munde des Priesters Samuel, dass Saul in einer früheren Schlacht gegen den ausdrücklichen Willen Gottes Milde gegenüber dem Feind hatte walten lassen.
Eine solche Eigenmächtigkeit eines Menschen widerspricht der jüdischen Vorstellung eines geschichtsmächtigen Gottes. Saul entfernt sich unbewusst immer weiter von diesem Gottesbild, weil er sich angesichts der aktuellen Bedrohung Israels als alternativlos sieht und deshalb nicht glaubt, dass Gott sich von ihm abgewandt habe.
Aber Samuel überbringt David im Auftrage Gottes seine Bestimmung zum König und Nachfolger Sauls. Daraufhin verlässt der jüngste Sohn einer Hirtenfamilie ein weiteres Mal seine Idylle und zieht an den Hof. Hirten wollen ihn vor Saul, der weiter an seine Bestimmung glaubt, schützen. Tatsächlich verfolgt Saul David maßlos.
Als glückliche Umstände Sauls Leben in Davids Hand legen, tötet David Saul nicht. Sein Auftrag ist es, für Israel zu kämpfen, nicht aber Sauls Tod. Saul erkennt Davids Sendung und ist versöhnt. Da bedrohen, gleichzeitig mit dem Tode Samuels, die Philister erneut Israel. Saul ruft die Krieger zusammen, verschweigt aber dem Volk, dass er ohne den Auftrag Gottes handelt.
Der dritte Teil beginnt mit einer Geisterbeschwörung als retardierendem Moment, das sich häufig im vierten Akt von Tragödien findet. Die Erscheinung des toten Samuel bestätigt Saul nur, was er schon weiß: Gott ist nicht mit ihm. Anstatt aber David zu rufen, siegt seine Eitelkeit und er wählt den Heldentod in der Schlacht.
Damit hat Saul als Herrscher ohne Legitimation, aber Vollstrecker des eigenen Willens Unheil über Israel gebracht. Selbst seine Einsicht verringert nicht seine Schuld. Die Führungselite Israels geht mit ihm unter.