Saul: Herrschaft als Selbstzweck? – Teil 2

Nach dem langen Stillstand beginnt unsere neue Saison mit einem einzigartigen Ereginis: Das monumentale "Saul" Oratorium von Ferdinand Hiller (1811-1885) war für lange Zeit vergessen. Mit der Wiederaufführung feiern wir sowohl das Werk selbst als auch das Jubiläumsjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«. Udo Kasprowicz fasst in seinem Essay für Hartmanns Libretto relevante literarische Interpretationen der Geschichte im Alten Testament zusammen.
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„Saul“ – Sprache und Pathos

Doch betrachten wir zunächst den Text, wenn auch nicht unvoreingenommen, so doch neugierig!

In einer Besprechung der Aufführung des Oratoriums auf dem rheinischen Musikfest im Jahre 1858 heißt es, der Librettist Moritz Hartmann habe den Text nicht aus Bibelstellen zusammengesetzt, sondern selbstständig bearbeitet. „Die Sprache versucht die alttestamentarische Farbe wiederzugeben …“ Und tatsächlich, manche Archaismen verweisen auf die Sprache Luthers und seiner Mitarbeiter im 1. Buch Samuels, die sich eng am Original orientiert und dabei wegen der angestrebten Breitenwirkung den Sprachgebrauch seiner Zeit im Auge hielt.

Man mag Hartmanns Bemühen, den Ton der uns als „Altes Testament“ bekannten Schriften zu treffen, als Ausdruck der jüdischen Tradition verstehen, in der er aufgewachsen ist. Das über die Erde verstreute Gottesvolk bewahrte seine Identität über 20 Jahrhunderte, indem seine Rabbiner die Überlieferung der Väter in Form und Gehalt penibel bewahrten.

Die Menschen im 19 Jhdt. begegneten ihrer Geschichte in ähnlichem Pathos. Ihr aufgeklärter Hochmut verbindet Tapferkeit und Verteidigungsbereitschaft der Vorfahren mit jener urwüchsigen, geradezu naiven Grausamkeit, die man selbst im Laufe des zivilisatorischen Fortschrittes überwunden zu haben glaubt.

Und so heißt es in Kleists „Hermannsschlacht“ folgerichtig über die Römer:

Die ganze Brut, die in den Leib Germaniens
Sich eingefilzt wie ein Insektenschwarm,
Muss durch das Schwert der Rache itzo sterben…((V,9)

Am Rande sei bemerkt, dass 100 Jahre später Albert Uderzo und René Goscinny mit ihren Helden Asterix und Obelix diese Haltung auf unnachahmlich doppelbödige Weise ironisierten. In 34 Einzelepisoden lassen sie die wilden Vorfahren der Franzosen, die Gallier, über die Römer triumphieren, obwohl gerade sie Frankreich schenkten, worauf es bis heute seinen Stolz gründet, vom Wein über die Sprache bis zum Rechtssystem. Und alle Franzosen fiebern ein über´s andere Mal mit dem kleinen Dorf in Gallien um den Sieg und erfreuen sich am Bild eines Festes, auf dem die Kunst geknebelt und die Wildschweine mit den Fingern gegessen werden.

Nicht erst die kriegerischen Exzesse des 20 Jhdt. haben unseren Glauben an Humanität als Ergebnis von Bildung erschüttert. Ebensowenig akzeptieren wir die geschichtliche Wahrheit eines grausamen Gottes, wie ihn das 1. Buch Samuels uns vorstellt. Wir wissen, dass menschliche Erfahrungen mit Gott darin Ausdruck gefunden haben.

Die Geschichtsbücher des Alten Testamentes schildern uns die Entwicklung der Halbnomaden in Kanaan zu einem Volk unter der Führung – und darin besteht die ungeheure Modernität – eines überweltlichen, nicht vorstellbaren Gottes, der auf die Einhaltung von Gesetzen besteht, die wiederum Menschen aufgeschrieben haben. Die Anhänger dieses Gottes nannten sich Israel, übersetzt „Hier herrscht Gott“.

Die heute als inhuman verstandenen Schlacht- und Verfolgungsberichte sind als Gradmesser für die Gesetzestreue der Juden zu verstehen. Je gottesfürchtiger das Volk, desto glänzender der Sieg in einem grundsätzlich existentiellen Kampf. Die Geschichtsbücher zeigen einen bedingungslos fürsorglichen Gott, der die Treue seines Volkes belohnt.

Aber aus dem Staatsvolk wurden Heimatlose. Die Juden haben in den Jahrhunderten nach ihrer Vertreibung aus Palästina ihrem Gott die Treue gehalten, wenngleich Gottes Handeln, die Fürsorge für sein Volk also, unter den neuen Lebensbedingungen anders aussehen musste.

Die Historisierung der Erfahrung mit Gott ist eine Leistung der jüdischen Theologie und garantiert die Kontinuität der jüdischen Mensch-Gott-Beziehung.

Saul: Herrschaft als Selbstzweck – Teil 3

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