MV-Subjektiv: PERSPEKTIVEN – Eindrücke von Prometheus

Die Suche nach dem Sinn des Lebens - das ist eine große Aufgabe, für jeden. Georg Lauer -er war als Bass im Konzertchor der Stadt bisher auch verantwortlich für die NeueChorSzene - hat uns auf seinen Weg durch die Musik mitgenommen und lässt uns an seinen sehr persönlichen Impressionen teilhaben: Wie hat er das Event "prometheus dis.order" erlebt, ein Konzert in der Tonhalle, das alles andere war als gewohnt.
Photo credit: Daniel Senzek - Tonhalle Düsseldorf
Sonntagmorgen, 5. September – 9 Uhr 5


Der WDR3-Lieblingsstücke-Moderator (Jörg Lengersdorf) erläutert seiner über die Lande verteilten Zuhörerschaft, es sei nicht bekannt, warum Beethoven beim Gasthausbesuch dem Kellner seine Suppentasse an den Kopf geworfen habe. Die Frage danach müsse unbeantwortet bleiben. Überliefert sei aber, dass sein Schüler Ferdinand Ries Zeuge dieses fraglichen Vorfalls gewesen sei. Von den bekannten Höhen und Tiefen der Beethovenschen Kompositionskunst spiegele sich in den Werken seines Schülers nichts wider, sie seien eher heiterer Natur. So eingeführt in das unbekannte, gleich vom „Trio Cantabile“ musizierte achtminütige Trio Es-Dur, op. 63 von Ferdinand Ries lässt sich das klassische Frühstück am Sonntagmorgen gut an.

10 Uhr 40


Der heute doppelkontrollierte Saaleinlass zur Tonhalle Düsseldorf braucht seine Zeit, zwar sind nur 50% zugelassen, aber einige finden ihren Stammplatz nicht.
Von der Überschrift prometheus dis.order noch leicht irritiert hatte die Programmvorschau im Netz zur Saisoneröffnung zwei Werke verheißen: Charles Ives‘ „Unanswered Question“ und Ludwig van Beethovens „Die Geschöpfe des Prometheus“. Nach Erreichen des Platzes wird jedem an der ungewohnten Saaldekoration sofort deutlich, dass an diesem Sonntagmorgen etwas anderes als ein übliches Symphoniekonzert geboten wird:
Von der Decke hängend, den Prospekt der Orgel überdeckend, sind hintereinander zwei transparente Folien zu sehen; darunter – die gesamte Breite des Chorpodiums einnehmend und dieses verdeckend – ist eine weitere etwa zwei Meter hohe Projektionswand erkennbar; über eine links hinter der Harfenistin angebrachte Treppe ist – die Plätze der Musiker überragend – ein zusätzliches Podium eingerichtet; an den Notenpulten sind Lampen erkennbar; es ist zu erwarten, dass das Spektakel im verdunkelten Saal statt finden wird.

11 Uhr 5


Der nach der langen Corona-Zwangspause vom Publikum äußerst freundlich begrüßte Tonhallen-Moderator (Michael Becker – Intendant) betritt die Bühne. Umstandslos erläutert er seinen im Saal schachbrettartig verteilten, nasen-mund verschlossenen Sternzeichen-Zuhörern den Start in eine neue Konzertsaison und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass im nächsten Abo-Konzert Anfang Oktober alle Abonnenten – voraussichtlich im Rahmen einer zu erwartenden „2G-Verordnung“ – wieder „wie im Zirkus“ platziert werden können. Ausführlich geht er dann aber auf das Gesamtkunstwerk ein, dass die gespannten Besucher als Zuhörer und Zuseher gleich erwartet: In erster Linie sei die schon für das vergangene Jahr geplante Produktion der Zusammenarbeit der Tonhalle mit der Beethoven Jubiläums GmbH (BTHVN2020) zu verdanken. Dass das für Konzept und Inszenierung verantwortliche Brüderpaar Nick und Clemens Prokop und ihre Gesellschaft TYE (trust your ears gmbh) in Düsseldorfer zu Hause sind, sei nicht projektentscheidend für den Aufführungsort Tonhalle, stelle aber einen schönen Bezug her. Auch freue man sich, als Sprecher der in den Verlauf der musikalischen Handlung eingespeisten und von Clemens Prokop verfassten Texte einen sehr geschätzten Schauspieler (Stefan Wilkening – auch der Musikverein erinnert sich aus den Projekten zu Schumanns „Manfred“ (2010), Griegs „Peer Gynt“ (2012) oder Sibelius‘ „Stormen“ (2016) gerne an seine markante Stimme) gewonnen zu haben. Gerade durch diese Texte, die aus der Sicht einer persönlich von Bipolarität betroffenen Bezugsperson gespeist und von dieser ausdrücklich befürwortet seien, sei der Blick auf Beethoven und seine zuweilen flache bis teils hochdramatische Prometheus-Komposition zu verstehen. Das sinfonisch weiterverwendete markante Thema (3. Sinfonie, Eroica-Klaviervariationen) werde das Konzertpublikum sicher sofort wiederer kennen. Eine Tänzerin und zwei Tänzer werden unterstützt von komplexen Lichteffekten das musikalische Geschehen eindrucksvoll nachvollziehbar machen, applauslos möge das Werk durch Ives „Unbeantwortete Frage“ ein- und ausgeleitet werden. So beendet der Moderator seine Einführung und begibt sich applausbegleitet auf seinen angestammten Platz im 2. Parkett.

11 Uhr 11


Los geht’s: Die Orchestermusiker werden herzlich mit Applaus begrüßt bis der letzte an seinem Pult an gekommen ist, dann erscheint auch der Dirigent (Alexandre Bloch), der sich verneigt und sich dann seinen Musikern zuwendet. Das Licht wird gedämpft, mehr als sonst, das Spektakel nimmt seinen Lauf – pausenlos heute! – mit der Musik von Charles Ives.
Der Klangteppich der gedämpften Streicher verbreitet im abgedunkelten Saal choralartig-wohlige Töne im feinsten Piano, aber nur 15 Takte lang, dann meldet sich die Solotrompete aus der dunklen Ferne mit einem markanten Signal ohne Bezug zur Tonalität der Streicher und verstummt nach nur zwei Takten wieder. Dann kommen auch andere Holzbläser zum Einsatz, überlagern die Streicher in größer werdender Dissonanz, verstummen wieder und lassen der Solotrompete Raum, das bekannte Signal noch mehrmals zu wiederholen. Mit einer letzten Streicherphrase verklingt das seltsame Stück, ohne „richtige“ Schlussphrase, ohne Antwort?
Dann meldet sich, über die großvolumigen Deckenlautsprecher verstärkt, die aufgezeichnete sonore Stimme des Sprechers mit der völlig nüchternen Botschaft über die „bipolare Störung als psychische Krankheit“ zu Wort: „Einer von Hundert ist betroffen. In Deutschland 830.000 Menschen. … Kosten 2015 für Behandlung und Arbeitsausfall, nur USA: mehr als 200 Milliarden Dollar… Nicht heilbar….“ (Text siehe im Programmheft).
Ihm fast ins Wort fallend gibt der Dirigent dem Orchester einen neuerlichen Einsatz: Endlich Beethoven und seine vielgespielte Ouvertüre zu „Die Geschöpfe des Prometheus“. Über die Treppe kommen die Tänzerin und die beiden Tänzer auf das Podium, stellen sich in Position und beginnen mit ausdrucksstarken, von pausenlos wechselnden Lichteffekten begleitet, ihre fast sportliche Einlage zu dramatischen und ge sanglichen Partien der Ballettmusik Beethovens von 1801. So geht es nun im Wechsel weiter: Text, Musik,
Tanz, Lichteffekte auf Leinwand und im Saal, Beethoven und den bipolaren Höhen und Tiefen seiner – in der Absatzabfolge leicht veränderten – 17-teiligen Musik folgend. (Was war das denn mit der Tasse von 9 Uhr 5?)


11 Uhr 50


Verstohlener Blick auf die Uhr: Das Stück hat auch Längen, in Musik, Text, Choreografie…

12 Uhr 10


Da ist es – das lang erwartete Eroica-Thema! Jetzt bewegen sich Vögel am Projektions-Leinwand-Himmel – zwei Tänzer – misslungene Kreaturen des Prometheus symbolisierend? – fechten zu den bekannten Klängen offenbar einen wilden Zweikampf aus.
In einem letzten Statement – „Back on your feet“ und wie alle englisch übertitelt – berichtet der Sprecher, dass den Betroffenen alle guten Geister verlassen und die bösen Geister nicht mehr weggehen: Das Schlimmste ist das Leben mit den Kreaturen.

12 Uhr 15


Ende der Beethovenschen Prometheus-Musik – Zugabe?
Der Dirigent hält das Publikum – Applaus unterbindend – gestisch in Bann. Die Frage – nach dem Sinn des Lebens? – muss wie angekündigt mit dem Stück von Ives erneut gestellt werden. Wieder zerteilt die Trompete mit schneidender Stimme mehrfach den Wohlklang, dann verebbt dieses Fragezeichen der Musik ein letztes Mal, nach einer Generalpause entflammt der stürmische Saal-Beifall des Publikums.

12 Uhr 25


Ende eines faszinierenden Gesamtkunstwerkes, Schluss, vorbei, kein Gedankenaustausch mehr im Foyer, das Publikum zerstreut sich.

16 Uhr 15

Zu Hause ist Entspannung angesagt. Zum gründlichen Nachstudium lockt das höchst informative Programmheft mit allen Informationen über Komponisten und ihre Werke, die erwähnten Protagonisten, Musiker, Tänzer und Sprecher, aber auch die, die für Licht, Ton und Vignetten-Design gesorgt haben. Zum guten Schluss entdeckt man auf den Seiten 30 bis 37 unter der Überschrift prometheus dis.order – eine bipolare Störung noch den vollständigen, so sehr zum Nachdenken anregenden Text des Autors und Produzenten (Clemens Prokop – TYE Shows).

22 Uhr 30:


Erste Reaktionen, in den sozialen Medien rührt sich etwas: die Tonhalle veröffentlicht auf Ihrer Facebook Seite erste wunderbare Bilder ihrer Hausfotografin (Susanne Diesner) vom Premierenabend am Freitag, Kommentare wie „Sehr gelungen…“, „Ich fand es toll…“ regen an, auch die Online-Ausgabe der RP nach der offiziellen Montagskritik abzusuchen. Das bebilderte Großinterview mit Igor Levit dominiert den Kulturteil, die unscheinbare Kurzkritik (Marion Meyer „Blitze über Beethoven“) zu dem phänomenalen Tonhallenereignis entdecke ich erst am nächsten Morgen in der Papierausgabe, schade.
Erst am Dienstag bringt – die volle Breitseite der RP-Kulturseite deckend – eine aktuelle Großaufnahme aus der Tonhalle das Kulturereignis vom Wochenende angemessen zur Geltung. Aber: Unter der Über schrift „Die Tonhalle hofft auf 2G“ referiert der Autor (Wolfram Goertz) „leider nur“, wie die Kultur nach und mit Corona in Salzburg oder Düsseldorf demnächst wieder Einzug in die Konzerthäuser hält und zählt die Ereignisse auf, die dem Eröffnungs-Spektakel von Freitag, Sonntag und Montag folgen werden.
Was am Sonntagabend bleibt, ist der Versuch, für das Ereignis des Vormittags ein eigenes Resümee zu finden. So fällt es aus:

„Seit Schumanns »Paradies und die Peri« 2004 hat die Tonhalle eine solche Musik-Tanz-Lichtkunst-Vi deo-Produktion wie die mit Beethovens »prometheus dis.order« im 1. Sternzeichen der neuen Saison 2021/22 nicht mehr erlebt!“