Es ist vielleicht normal, dass einem begeisterten Chorsänger Melodien im Kopf bleiben, die er besonders gern interpretiert hat. Der Komponist Hanns Eisler möge mir verzeihen, wenn es ein Text ist, der mich von früher Jugend an sehr berührt hat. In Thüringen sozialisiert, lernte ich Bertolt Brechts „Kinderhymne“ um 1960 im Schulchor kennen und erlebte in Diskussionen mit seinem Leiter (meinem Vater), dass er sich für diese neue Weltsicht begeisterte, auch oder gerade weil er einst im Stechschritt als Trompeter eines Musikcorps begeistert zur Maas und zur Etsch und dann ums Überleben bangend als Soldat des grauenhaften Krieges bis weit jenseits der Memel kam. Für ihn waren Brechts Worte wirklich Impuls zum Umlernen, für mich das glückliche Erleben eines Liedes, das mir selbst in der ummauerten geschlossenen Gesellschaft die Idee der europäischen Orientierung nicht versperrte. Erst jetzt verstehe ich, warum der wunderschöne Hymnus nach und nach aus den Repertoires der Chöre verschwand und ich ihm im Chor der Friedrich-Schiller-Universität gar nicht mehr begegnete. Ich gehörte dann während der Wende zu jenen, die für dieses Werk als neue Hymne des sich wieder einigenden Deutschland plädierten.
Kinderhymne
Text: Bertolt Brecht
Musik: Hanns Eisler
Anmut sparet nicht noch Mühe,
Leidenschaft nicht noch Verstand,
daß ein gutes Deutschland blühe,
wie ein andres gutes Land.
Daß die Völker nicht erbleichen
wie vor einer Räuberin,
sondern ihre Hände reichen
uns wie andern Völkern hin.
Und nicht über und nicht unter
andern Völkern wolln wir sein,
von der See bis zu den Alpen,
von der Oder bis zum Rhein.
Und weil wir dies Land verbessern,
lieben und beschirmen wir’s.
Und das liebste mag’s uns scheinen
so wie andern Völkern ihrs.
Gerade ein Jahrzehnt nach dem Beginn des furchtbaren Zweiten Weltkriegs, der die Nazi-Verfälschung der 100 Jahre zuvor niedergeschriebenen Idee Hoffmann von Fallerslebens zur Errichtung und Bewahrung einer deutschen Nation innerhalb einer umstrittenen territorialen Aufspaltung zum brutal realisierten Kriegsziel ausrief, schrieb Bertolt Brecht den Text zu seiner Kinderhymne. Poetisch zwar, aber entschieden und konkret polemisierte er mit der ersten Strophe des „Liedes der Deutschen“. Im Jahr nach der Proklamation der beiden deutschen Staaten, die aus den Besatzungszonen hervorgingen, begann – von den westlichen Alliierten gefordert und gefördert – im Bereich des Grundgesetzes das zarte Pflänzchen „Demokratie“ zu wachsen und sich durch das längst nicht verschwundene Unkraut des Erbes der verbrecherischen Ideologie zu kämpfen. Die Verpflichtung auf die dritte Strophe der so arg missbrauchten Hymne war eine gute und – wie man heute erlebt – erfolgversprechende Idee. Aber es sollte noch lange dauern, bis sich der zuvor unselig missinterpretierte Text der 1. Strophe aus den Köpfen verlor.
Im östlichen Teil des nach dem Krieg verbliebenen deutschen Territoriums, der sich im Namen eine „Demokratische Republik“ nannte aber zur Diktatur des Proletariats sowjetischen Vorbilds bekannte, wurde eine neue Hymne komponiert.
„Auferstanden aus Ruinen“ ist vom Versmaß so identisch mit dem „Lied der Deutschen“, dass Hoffmann von Fallerslebens Lyrik zur Musik Hanns Eislers und Johannes R. Bechers Hymnus zur Haydn-Komposition gesungen werden kann. Es war eine Zeit, in der das Gebot des Kampfes um die Deutsche Einheit auch vom Osten nicht aufgegeben war, aber natürlich ebenfalls mit dem Anspruch des Ideologie-Exports. Mit dem Verlust des Einheitsgedankens wurde auch der Text der Hymne wegen der Zeile „Deutschland, einig Vaterland“ untersagt, ein stolzes Mitsingen bei den zahlreichen Olympiasiegen gab es nicht!
Brechts „Kinderhymne“ blieb eine solche und wurde trotz der wundervollen Vision oft als kindlich naive Utopie betrachtet. Aber Brecht machte die Kinder wahrscheinlich sehr bewusst zu den Sängern seines – den pejorativ aufgeladenen Text konternden – Hymnus. Ihm schien offenbar klar, dass um 1950 nur eine junge Generation, die das Kriegsende nicht als „Zusammenbruch“ beweinte, sondern als „Befreiung“ zu empfinden lernte, in der Lage sei, vom Ungeist des nationalchauvinistischen Herrschaftsanspruchs der Nazis befreit ein neues Deutschland zu errichten. Sein Text und die vergleichsweise einfache, aber hymnisch brillante Melodie Hanns Eislers haben sich tief in meine Seele eingeschlichen, denn sie bauten die Vision, in der ich gerne leben wollte und die mir auch die Hoffnung ließ, ohne den ideologischen Ballast mit meinen in Düsseldorf lebenden Großeltern vereint zu sein – am Rhein, wo auch Brecht das „GUTE DEUTSCHLAND verortet.
Es ist die dritte Strophe der Kinderhymne, die schon damals jedem die unterschiedliche Art von Nationalbewusstsein und Heimatliebe vor Augen führte, durch den die Aussagen der anderen ein plausibel vorstellbares Ziel werden.
KINDERHYMNE | LIED DER DEUTSCHEN |
Und nicht über und nicht unter andern Völkern wolln wir sein. | Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt. |
Die geographischen Eckpunkte des „Deutschlandlieds“ liegen im Nachkriegseuropa allesamt jenseits des Staatsgebietes, in den Niederlanden und Belgien, in Belarus und Litauen, Italien und Dänemark. Sie wurden von Brecht der Realität angepasst und ihrer aggressiven Interpretation entzogen:
Von der See bis zu den Alpen Von der Oder bis zum Rhein | von der Maas bis an die Memel von der Etsch bis an den Belt. |
Brechts Kindehymne stellt sich der Vergangenheit, „… dass die Völker nicht erbleichen wie vor einer Räuberin“ und rechtfertigt den dann wieder verdienten Stolz auf die „gute“ Nation. Das Vergleichswort WIE, das den eigenen Anspruch immer in das gleichberechtigte Verhältnis zu anderen setzt, ist im Text dominant: „…. Und das liebste mags uns scheinen, so wie andern Völkern ihrs“.
Es sind kindlich naive, aber wunderbare Vorstellungen eines Miteinander. Es ist ein zu dieser Zeit und für alle Zukunft gültiges Bekenntnis einer neuen Generation, die aus einer schuldbeladenen hervorgeht und jene lehren kann, die Bürde der Veränderung und der Umkehr bewusst anzunehmen und Demokratie zu lernen.
Und das ist – so bin ich fest überzeugt – wert, gesungen und verkündet zu werden.
So, wie uns der § 1 des Grundgesetzes mit Stolz erfüllt, so kann das auch das Bekenntnis zu „Einigkeit und Recht und Freiheit“.
Es war gut und sinnvoll , die so wunderbare, aber doch auch durch ihren Missbrauch schwer belastete Melodie Haydns mit der Reduzierung auf eine Strophe und das Verbot einer anderen vom Erbe zu befreien. Aber der Gedanke, mit der Einheit Deutschlands die Kinderhymne in die Aufgabe des Entstehens einer neuen Gemeinsamkeit einzubringen und sie vielleicht wirklich auch zu jener der Erwachsenen zu machen, hätte zumindest einer ernsthaften Erwägung bedurft.