Stadtführung aus der Vergangenheit

In Düsseldorfs Vergangenheit lässt sich viel Interessantes entdecken. Angefangen mit dem legendären Grafen Adolf von Berg, der das Dorf an der Düssel nach der Schlacht bei Worringen im Jahre 1288 zur Stadt erhebt, über den volkstümlichen Herzog Jan Wellem, der als Kurfürst von der Pfalz Düsseldorf zwischen 1679 und 1716 den Glanz einer Residenzstadt verlieh, bis hin zu Napoléons Besuch 1811. Er löste bei der Bürgerschaft eine Begeisterung aus, die in den folgenden Jahrzehnten die Stadt aus der Provinzialität herausführte. Im 19. Jahrhundert sind die Wurzeln zu finden für die Gewerbeausstellungen, die Industrieverwaltungen, den überregionalen Finanzplatz, die vorausschauende Infrastruktur, die Gewerbe anlockt und die Blüte von Kunst und Kultur.
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Eine Buchbesprechung zu Christa Holtei: Sommer ohne Kaiserwetter. Düsseldorf 1902 (Droste Verlag, 2021)

Zu jedem Ereignis, jedem Thema erwartet den Interessenten eine Flut von Literatur angeführt von einem fünf Kilo schweren „Düsseldorf Lexikon“, das in 2000 Einzelartikeln erste Anstöße zur Vertiefung gibt. Und doch verzagt manch einer trotz oder gerade wegen dieses Angebots.
Doch wo die Not am größten, ist Hilfe nah!
Die Düsseldorfer Anglistin, Übersetzerin und Buchautorin Christa Holtei füttert Wissensdurstige mit wenig Zeit für dickleibige Sachbücher mit historischen Kriminalromanen aus dem Düsseldorfer Milieu. Man löst mit den Ermittlern einen komplizierten Fall und erfährt en passant Wissenswertes über die Epoche. Mit dem dritten Krimi sind wir inzwischen nach 1811 und 1834 an der Schwelle zum 20. Jahrhundert angekommen.
Kriminalkommissar August Höfner wird kurz vor seiner Pensionierung sozusagen zum Abschluss seiner Dienstzeit im Jahre 1902 mit der Aufsicht über das Ausstellungsgelände der Industrie-, Gewerbe- und Kunstausstellung betraut. Ihm zur Seite steht ein Polizeisergeant Lenzen (sorgfältig recherchiert: in der preußischen Polizei gab es ab 1860 den Titel des Sergeanten statt „Schutzmann“ für Beamte, die aus dem Militärdienst zur Polizei gewechselt waren: „Lenzen nahm Haltung an und schlug die Hacken zusammen.“ – Seite 55) Was von seiner vorgesetzten Behörde als Abschiedsgeschenk gedacht war, empfindet der Kommissar als Störung seiner Gewohnheiten, „die ihn insgesamt etwas behäbig“ haben werden lassen. Nun muss er von seinem Heimat- und Dienstort Oberbilk, den die Autorin durch geschickt eingestreute Bemerkung als Stadtteil der kleinen Leute charakterisiert, mit der Straßenbahn nach Golzheim fahren. Mit den Worten

„Da kannte er sich noch nicht einmal aus!“

lässt uns Christa Holtei seinen Unwillen spüren. Wir dürfen aber dadurch an seiner zögerlichen Benutzung der elektrischen Straßenbahn und den von Haltestelle zu Haltestelle umständlicheren Orientierungsanstrengungen teilhaben, die den Neudüsseldorfer Lesern eine Stadtführung ersetzen, die Einheimischen dagegen an längst Vergessenes erinnern. Am Corneliusplatz sieht er das neue Parkhotel in der Sonne liegen, von dem er bisher nur in der Zeitung gelesen hatte. Sein Kommentar „Luxus pur“ zeigt, dass er nicht nur den Stadtteil, sondern auch sein Milieu hinter sich gelassen hat. Und während wir ihn bei der Aufklärung einer Serie von Brandstiftungen und eines geheimnisvollen Todesfalls begleiten, werden wir zu den großen Publikumsmagneten der Ausstellung geführt, erkennen den Erfolg der Veranstaltung am Gedränge, in dem sich die beiden Polizisten bewegen. Wir spüren den zaghaften gesellschaftlichen Wandel, wenn wir zwei höheren Töchtern mit Anstandsdame beim Bummel über das Gelände begegnen und am Ende eine der beiden jungen Damen als angehende Journalistin wieder treffen. Wir erfahren die Macht der Boulevardpresse in einer sich langsam formierenden Massengesellschaft am Beispiel eines Reporters, der – wenn auch als Karikatur gezeichnet – skrupellos zur Auflagensteigerung die Massen manipuliert. Wir teilen auch die sorgenvolle Hoffnung des Intendanten der Tonhalle, der zeitgleich mit der Ausstellung und ihren Großveranstaltungen in seinem Saal 150 Konzerte aus Anlass des 70. Todesjahres Goethe und des rheinischen Musikfestes erfolgreich durchführen muss.
Und in all dem bunten Treiben verliert unser Kommissar mit seiner Vorliebe für Krüstchen aus dem Restaurant von Jean Schmitz nicht den Überblick. Wir folgen seinen Entdeckungen neugierig und gespannt von Seite zu Seite.
Ist der Fall gelöst und beim Leser der Wunsch geweckt, mehr über die Metropole der Rheinprovinz zur Jahrhundertwende zu erfahren, wird sein Wissendurst im Anhang in kurzen informativen Skizzen gestillt.