Natur, Musik, Kirche: Antwort auf Sloterdijks Gedanken

Wie Sloterdijks Gedanken zum Pfingstfest zum Ariadnefaden werden, der uns durch ein Labyrinth der Reflexionen leitet: Vom „Protomusikalischen“ gelangt Hans Möller durch Vermittlung Nietzsches zum „Musikalischen“, weil wir „singend (..) oftmals die Kraft des Rauschhaften und Mythischen“ spüren. Aber „spüren“ heißt nicht „sich ausliefern“. Und so liefert Hans Möller erneut einen bedenkenswerten Beitrag zu unserem Selbstverständnis als Chorsänger, wenn er feststellt: „Unsere Begeisterung für Chormusik hat durch ihren kirchlichen Ursprung und ihre überwiegend moralisch mahnenden Inhalte vielleicht doch auch viel mit dem pfingstlichen Wunsch nach ästhetisch verstärkter Erreichbarkeit der Menschen zu tun.“
Portrait von Eduard Magnus

Und diese Duplizität der Erziehung des Menschen wird uns besonders bei der Vorbereitung des letzten Konzertes der Saison deutlich. Wir sehen unser Vergnügen an der Vertonung der Ballade „Die erste Walpurgisnacht“ durch Felix Mendelssohn Bartholdy wachsen, je souveräner wir die harmonischen Klippen in wahnwitzigen Tempo meistern. Es ist aber nicht allein die Befriedigung darüber, dem Stück gerecht zu werden, sondern wir spüren auch unsere Sympathie mit den ekstatischen Tänzern und Geisterbeschwören. Hier müsste spätestens Zweifel einsetzen. Stehe ich auf der richtigen Seite, wenn ich den christlichen Missionaren eine Schlappe wünsche? Ist es nicht die große Leistung des Christentums, den Menschen die Angst vor unkalkulierbaren Naturmächten genommen zu haben, die sie durch Opfer, Feste und Beschwörungen zu bannen hofften?
Aber das Christentum ist in die Jahre gekommen und angreifbar geworden. Seine Ethik hat sich verschlissen durch Bigotterie, Rassismus, gerechte Kriege auch unter christlichen Völkern. Die Aufklärung gibt den Menschen ein Machtmittel in die Hand, die Vernunft, mit der sie ihre Ethik begründen können. Die Drohkulisse der Kirche (der Teufel, den sie fabeln) wird überflüssig. Zelter, der zunächst mit der Vertonung betraut war, hat diesen Perspektivenwechsel Goethes offenbar nicht verstanden. Er konnte nicht eine Ballade vertonen, in der das Christentum vorchristlich animalischen Kräften unterliegt. Mendelssohn dagegen kannte die Arroganz des Christentums, die sich in seinem Erlösungsmonopol ausdrückte. Seine Familie musste sich aus Sorge um die wirtschaftliche Existenz taufen lassen. Die Auseinandersetzung mit christlicher Theologie, die schon eine Generation früher mit dem Philosophen Moses Mendelssohn einsetzte, begründete zwar Zweifel an der jüdischen Orthodoxie, führte aber nicht zur bedingungslosen Hinwendung zum Protestantismus. Am besten lässt sich die Haltung der Mendelssohns vielleicht mit dem Begriff „aufgeklärtes Judentum“ bezeichnen. Mendelssohn verlieh den christlichen Missionaren in seiner Vertonung durchaus den Charakter von Kolonisten, die über die Vermittlung des Christentums auch Herrschaft ausüben wollten. So vertraut uns Heutigen dieser Gedanke ist, so wenig darf man aber vergessen, dass das Christentum einstmals die animistischen Naturkulte, deren Rituale eigentlich nur aus Angst vor unbesänftigten Naturkräften vollzogen wurden, abgelöst hat. Das Bild eines Gottes, der die Natur erschaffen hat und uns als seinem Ebenbild zu regieren übergeben hat, sollte diese Angst nehmen. Was Goethe hier angreift, ist ein Zerrbild dieser einst humanen Alternative zu den Naturreligionen, die hier im niedlichen Geisterbahntheater auftreten und ihren Schrecken verloren haben.

Die Geburt der Kirche aus dem Geiste der Musik“ – Gedanken zu Aussagen eines Philosophen zur Etablierung des Pfingstfestes